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Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Zunehmend fühlen sich Menschen durch die blosse Existenz von anders lebenden, anders denkenden oder anders fühlenden Mitmenschen in Frage gestellt, ja sogar angegriffen.

Beispiel vegane Ernährung: ein Zürcher Professor und Medienprominenter bezeichnet im Interview mit "10 vor 10" die wachsende Gruppe von Veganern als missionarisch, arrogant und besserwisserisch. Was ihn zu dieser "Analyse" befähigt, bleibt unklar. Statt sachlich zu beschreiben, fällt er ein Werturteil über Veganerinnen und Veganer als Personen. Er fühlt sich scheinbar angegriffen durch die blosse Tatsache, dass es sie gibt.

Seien es religiöse Gruppen oder entrüstete Wutbürger - jede Gruppe behauptet von sich die "richtige" zu sein, macht andere für Negatives verantwortlich und fühlt sich durch die reine Existenz anders Denkender oder anders Lebender bedroht. Dies manifestiert sich auch sprachlich. Wer nicht an das glaubt, woran man selbst glaubt, ist ein "Ungläubiger". Und wenn die Medien Statements von Pegida-Anhängern bringen und die Bewegung kritisieren, werden sie als "Lügenpresse" bezeichnet. Das Wort wurde gerade zum Unwort des Jahres gekürt.

Dabei wäre die Sache an sich doch denkbar einfach, wenn wir uns bewusst machten, dass sich jeder Mensch sowieso seine eigene Wirklichkeit konstruiert. Dann kann man gelassen damit umgehen, dass andere halt andere Wirklichkeitskonstruktionen haben. Natürlich sucht man in der Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Bestätigung der eigenen Wirklichkeitskonstruktion. Und die Medien - allen voran die sozialen Medien - geben uns heute ausreichend Möglichkeiten, Menschen zu finden, die genauso denken wie wir selbst. So wird jede noch so bizarre Ansicht bestätigt. Wenn mehrere das denken, muss es ja stimmen. Es wird immer "wahrer" und zieht immer mehr Leute an. Zudem fühlt man sich in der Anonymität des Internets dazu ermutigt, Sachen zu sagen, die man sonst nicht sagen würde.

Gruppen können eine zuweilen fragwürdige Dynamik entwickeln. Da wird an einem "Motivationsseminar" mit mehreren hundert Teilnehmenden den Leuten richtig eingeheizt, bis der erlauchte Chefmotivator auf der Bühne ein Schild "Ausrasten" hochhält - und schon tanzt der ganze Saal von an sich vernünftigen Menschen mit guter Ausbildung und im Business Outfit verzückt nach der Pfeife des Ausrastenden - und macht sich zum Affen. Und natürlich gelten die wenigen Personen, die ausserhalb stehen und das Theater doof finden, als "Spassbremsen".

Zurück zu den Mimosen: Was wir hinterfragen sollten, ist die zunehmende Empfindlichkeit, die Neigung, Anderssein als Infragestellung unserer selbst zu interpretieren. Ein souveräner und aufgeklärter Mensch, der an etwas glaubt oder von etwas überzeugt ist, lässt sich nicht davon verunsichern, dass andere anders denken oder an etwas anderes glauben - oder gar nicht glauben. Mit der Tatsache, dass andere Menschen anders sind und andere Meinungen haben, kann nur derjenige nicht umgehen, der selbst unsicher ist.

Statt sich als Spielball seiner Gefühle, die ständig von anderen verletzt werden, weil sie anders sind, zu definieren, sollten wir lieber mit Verstand agieren, gelassen bleiben und selbst bestimmen, ob wir uns beleidigen lassen oder nicht. Schliesslich sollten wir auch nicht vergessen, dass es im Laufe der Geschichte vor allem die Unangepassten und Querdenker waren, die uns weitergebracht haben. Sonst würden wir heute immer noch glauben, die Welt sei eine Scheibe.

Man kann Toleranz aktiv betreiben und sich mit der Welt des Anderen auseinandersetzen, ohne dass man sich selbst zu sehr gefühlsmässig engagiert. Dann kann es gelingen, die Sache rational zu erfassen und einfach mal abzuhaken. Dies hat den Vorteil, dass man eines Tages - wieder aus rationalen Gründen - die andere Sicht der Dinge für sich nutzen kann. Zum Beispiel veganes Essen zu probieren und neue Geschmackserfahrungen machen. Oder Flexitarier werden, mal Fleisch essen und mal vegetarisch/vegan, denn es muss ja nicht immer dieses Entweder-Oder sein.

Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich früher auch in die Gefühlsfalle getappt bin. Kaum in der Schweiz, hörte ich Nachbarn jubeln, als bei einem Länderspiel ein Tor gegen die Deutschen fiel. Dabei war es offensichtlich nicht wichtig, wer das Tor erzielt hatte, Hauptsache die Deutschen kriegten einen rein. Ich bezog den schadenfreudigen Jubel auf mich persönlich, regte mich auf und reagierte auch später immer angegriffen, wenn ich die ewige Leier vom grosskotzigen und arroganten Deutschen hörte.

Inzwischen hat mein Ärger der Gelassenheit Platz gemacht. Ob ich es will oder nicht, es wird immer Leute geben, die aus irgendwelchen Gründen Deutsche nicht mögen. Das hat mit mir persönlich überhaupt nichts zu tun, sondern mit der Wahrnehmung - sprich der Wirklichkeitskonstruktion - dieser Leute. Sie sagen mit ihren Ressentiments etwas über sich selbst aus, nicht über mich. Heute mache ich sogar selbst Witzchen über "die Deutschen". Denn Humor ist immer noch die beste Art, mit kleinen kulturellen Unterschieden umzugehen. Und wer nicht über sich selbst lachen kann, der ist nicht wirklich souverän. Womit wir wieder bei der leidigen Empfindlichkeit sind. Und bei der Rationalität. Sie liefert uns oft - wenn auch nicht immer - eine Gelassenheit, die uns das Leben erleichtert. Aufregen tun wir uns sowieso immer wieder, auch das ist - ironischerweise - eine rationale Tatsache.




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