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    Ich fahre Zug und mache erstmal gar nichts.
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Das sage ich mir jeweils, wenn ich mal öffentliche Verkehrsmittel dem Auto vorziehe. Zugegeben, es kommt nicht oft vor. Doch nach einer Zugfahrt bin ich jedes Mal um interessante kommunikative Erfahrungen reicher, wenn auch nicht unbedingt bereichert.

Neulich im Regionalzug von Wettingen nach Olten, 17.43 Uhr. Ich habe erste Klasse gewählt, wegen der Ruhe. Tatsächlich ist es sehr ruhig, als ich in Wettingen einsteige. Fast beängstigend ruhig. Ich male mir aus, wie das auf der Rückfahrt gegen 23.00 Uhr sein wird, alleine in einem solchen Abteil zu sitzen. Spontan frage ich mich, welche Nummer man eigentlich in Notsituationen wählt. 111 oder 114?

Ich schaue ein bisschen umher. Woher sollte man eigentlich wissen, dass dieses muffig-verstaubte Abteil erste Klasse ist, frage ich mich. Da fällt mir wieder eine Episode ein, die ich vor ein paar Jahren erlebt habe. Abends in der S 12 von Zürich durchstreifte ein Kontrolleur-Team den Zug und landete in meinem Abteil gleich zwei Treffer: eine ältere Dame, Schweizerin, und ein junges Paar aus Brasilien. Mit der Schweizerin war man schnell fertig, sie zahlte anstandslos. Das brasilianische Paar aber wies darauf hin, dass sie nicht gewusst hätten, dass dies ein Erstklassabteil sei und stellten die durchaus berechtigte Frage, woran sie das merken sollten. Der jüngere der beiden Kontrolleure zeigte sich sichtlich betroffen und radebrechte auf Englisch, das Erstklassabteil sei blau, die zweite Klasse grün. Worauf der Brasilianer darauf hinwies, dass man doch nicht allen Ernstes für einen solch lapidaren Farbunterschied nun von ihnen 100 CHF verlangen könnte (ich glaube, es waren zweimal 50 oder 60 CHF). Der ältere der beiden Kontrolleure zeigte sich jedoch völlig ungerührt und brummelte auf Schweizerdeutsch etwas vor sich hin, also eine echte Good Guy - Bad Guy Konstellation, wie mir als ungewollte Beobachterin der Szene sofort klar wurde. Dem Good Guy war nicht so wohl in der Situation und er zeigte durchaus Verständnis. Wäre er allein gewesen, hätte er die Sache auf sich beruhen lassen, was in Anwesenheit des Bad Guys jedoch nicht möglich war. Nach einigem Hin- und Hergeplänkel zahlte das brasilianische Paar schliesslich. Nachher sprach ich die beiden an und versuchte das Dilemma des Good Guys zu erklären. Sie nahmen es mit Humor. Wir haben uns dann den Rest der Fahrt prima unterhalten. Als mein Mann mich am Bahnhof Wettingen abholte, haben wir die beiden gleich noch ins Hotel chauffiert - und später noch nette Mails aus Brasilien erhalten.

Brüsk werde ich in Baden aus meinen Gedanken gerissen, als sich das Abteil füllt und ein Herr im Businessoutfit eine Sitzreihe weiter laut in sein Handy spricht: "Ja, grüezi Herr Meier, ich wollte eben mit Ihnen noch mal die Bestellung durchgehen." Angestrengt schaut er dabei ins Laptop auf seinen Knien. Von Baden bis Aarau ist er damit beschäftigt.

In Aarau steigt unter anderem ein jüngerer Mann ein und lässt sich auf der Bank direkt neben meiner nieder. Jeans, Treckingschuhe, Pulli, Sport-Anorak einer bekannten Firma mit Steinzeittier im Logo. Typischer Naturwissenschaftler, denke ich. Er fläzt sich in den Sitz, streckt seine Beine aus, legt den einen Arm lässig hinter den Kopf und zückt mit der anderen Hand sein Handy. Typische Machohaltung, denke ich. "Ja, Frau Hansmann, es ist wegen der Amerikaner. Ich konnte Müller um fünf vor sechs nicht mehr erreichen, habe nur auf seine Combox gesprochen. Können Sie das übernehmen und die Amerikaner morgen auf 10 legen?" Offensichtlich kann Frau Hansmann, denn er beendet das Gespräch, versorgt das Handy und pfeift fröhlich vor sich hin. Er wirkt unruhig, macht fahrige Bewegungen. Er nimmt das Handy wieder hervor, drückt auf der Tastatur herum und murmelt vor sich hin. Er spricht übrigens Hochdeutsch. Dann wählt er wieder eine Nummer. "Ja, hör mal, hier ist Manfred. Habe eben mit Urs gesprochen, wegen des 66-Dollar-Produkts. Er ist aber nicht drin in der Materie. … Urs hat zugegeben, wenn das geht, dann sei das eine echte Option … Also, nach meinen Erfahrungen kann man das kürzen. … Die Vorexperimente laufen. Du kannst dir überlegen, ob du einen Antrag machst. … Einstufige Chemie … Also, aus meiner Sicht muss klar die dahinterliegende Annahme transparent sein. … Tschüss."
Dieser aufgeblasene Nominalstil, denke ich, typischer Deutscher. Wieder versorgt er - also Manfred - das Handy, pfeift unruhig vor sich hin. Es ist fünf vor Olten, als er ein Laptop aus der Tasche zieht, aufstartet und darauf herumhackt. Typischer Wichtigtuer, denke ich. Dann sind wir in Olten, er packt seine Sachen, springt auf und drängelt sich an mir vorbei zum Ausgang. Idiot, denke ich.

Die Rückfahrt nachts im verwaisten Zugabteil bleibt mir erspart. Ein nüchterner lieber Kollege nimmt mich und zwei weitere Kolleginnen nach dem Fest im Auto mit.
Zum Glück. 111 und 114 hätten nichts gebracht.

Fazit 1: Man trifft manchmal tatsächlich auf Deutsche, die die gängigen Vorurteile von wegen laut und angeberisch perfekt bedienen - und damit leider unsere selektive Wahrnehmung stärker prägen als die grosse Masse der leisen und bescheidenen Deutschen.

Fazit 2: Der Kluge fährt ab und zu mit dem Zuge, weil man dort vielfältige Kommunikationssituationen erleben kann, aus denen wiederum nette Bekanntschaften entstehen können. Wenn man vorhat, an einem netten Fest ein nettes Glas Wein zu trinken, verbietet sich das (eigene) Auto sowieso.

Fazit 3: Warum nicht einmal gar nichts tun und Reisen an sich geniessen? Lassen Sie doch einfach mal die Landschaften vorbeiziehen und hängen Sie Ihren Gedanken nach. Stilvoller als das ganze Zugabteil an geschäftlichen und privaten Dingen teilhaben zu lassen, ist es allemal. Und entspannender obendrein. Ausser man sitzt irgendwann mitten in der Nacht ganz allein in einem Abteil. Die Nummer des Polizei-Notrufs ist übrigens 117, Feuer-Notruf 118 und Sanitäts-Notruf 144.

November 2010, Gunhild Hinkelmann




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