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    Gute Vorsätze für 2010: vorsätzlich gut zuhören
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Zum Jahresanfang macht man sich Vorsätze: weniger essen, mehr Sport, besser leben. Wie wäre es zur Abwechslung mal mit ein bisschen Selbstreflexion? Zum Beispiel darüber, ob die Art, wie wir andere wahrnehmen, etwas damit zu tun hat, wie wir andere wahrnehmen wollen. Zum Beispiel die Deutschen, die ja alle so arrogant sind.

Was genau ist an "den Deutschen" eigentlich so arrogant? Einfach alles, die Sprache, das Auftreten, die Umgangsformen. Darüber herrscht in der Schweiz allgemeiner Konsens. Ich bin zwar nur eingebürgerte Schweizerin mit deutschem Migrationshintergrund, doch nach 17 Jahren in der Schweiz merke ich selbst, dass ich solche auffälligen Verhaltensweisen meiner Landsleute zu erkennen glaube. Ich ertappe mich selbst schon mal beim Lästern über "die Deutschen", ich fühle mich gut, wenn ich nach einer Reise wieder in Kloten lande, zucke zusammen, wenn ich durch Zürich schlendere und ringsherum hochdeutsch höre, schätze den höflichen Umgangston hierzulande. Bloss wenn ständig von jedem Löli und in allen Medien dieses blöde Klischee kolportiert wird, in Deutschland gehe man grusslos in eine Bäckerei und sage "Ich krieg zwei Brötchen", dann platzt mir jeweils der Kragen. Es stimmt nämlich nicht. Ich bin in Westfalen aufgewachsen, habe in Hamburg studiert und in Bremen und Frankfurt gelebt. An keinem dieser Orte sagte man "Ich krieg 'nen Brötchen." Mag sein, dass es unzivilisierte Leute gibt, die so etwas sagen oder dass es Gegenden gibt, wo das üblich ist. Doch genauso wird es Gegenden in der Schweiz geben, wo man am Stammtisch Phrasen drischt, die wohl kaum auf die Denk- und Ausdrucksweise "der Schweizer" übertragen werden könnten. Nicht alle Schweizer sind wie der Alp-Öhi, nicht alle Schweizerinnen wie Heidi - und nicht alle Deutschen wie Peer Steinbrück.

Da ich als deutsche Schweizerin diesem Thema zwar mit einem soliden Erfahrungshintergrund, aber nicht ganz neutral gegenüberstehe und in einer Ehegemeinschaft mit einem echten - und somit garantiert neutralen - Schweizer lebe, möchte ich das Wort nun meinem kommunikativ sensibilisierten Mann übergeben.

Wer hören will, muss nicht fühlen

von André Ehrhard

„Ich krieg noch’n Bier!“ wird gerne unseren nördlichen Nachbarn in den Mund gelegt - als Beweis für ihre sprichwörtliche Arroganz in allen Lebenslagen. Wer einmal genau darauf achtet, wie oft solche sprachlichen Attacken auf die zarte Schweizer Seele passieren, wird feststellen, dass so etwas kaum vorkommt. In der Regel formulieren die Deutschen ihre Wünsche, Aussagen oder Bitten etwas geschliffener als wir, benutzen komplexere Satzstrukturen oder drücken sich vorsichtig aus.

„Darf ich Ihnen behilflich sein?“ kommt wohl eher aus einem deutschen Mund, während Schweizer mit einem „Chan i hälfe?“ zufrieden sind. Nun ist dies ein völlig unverfängliches Beispiel, weil es sich um den Ausdruck einer Hilfestellung handelt, der in jedem Fall Dankbarkeit auslöst. Kritischer wird die Sache, wenn Kritik geübt wird. Warum hören Herr und Frau Schweizer Aggression aus deutschem Mund, wenn sich eine Kundin im Warenhaus darum bemüht, schwatzende Kassierinnen zur Kasse zu bewegen, weil sie zahlen will? „Dürfte ich wohl bitte bezahlen?“ sagt die Deutsche - „Chan i zale?“ die Schweizerin. Wer drückt sich höflicher aus?

Rein sprachlich ist das klar. Trotzdem wird die Deutsche mehr Widerstand bzw. Schnoddrigeit in der Reaktion der Angestellten erfahren. Warum nur? Die Schweizerin und die Deutsche wollen das Gleiche: die Kassierin soll endlich ihren Job machen, und beide drücken sich eher vorsichtig aus, aus Gründen der Diplomatie. Die Deutsche sogar noch etwas diplomatischer. Wenn die Maxime „C’est le ton qui fait la musique.“ gelten soll, müsste die hochdeutsche Formulierung mehr Verständnis bzw. eine freundlichere Reaktion hervorrufen. Tut sie aber nicht. Die Kassierin fühlt sich ertappt, blossgestellt und angegriffen und antwortet „Ja, Sie DÜRFEN! MOMENT!“. Und würde am liebsten beifügen: „Sie cheibe Tüütschi!“, was sie nun ihrerseits aus Gründen der Diplomatie nur bei sich denkt, in ihrer Mimik aber nicht zu verstecken vermag.

Statt kurz zu reflektieren, was genau gesagt wurde und es auf seinen Höflichkeitsgehalt zu prüfen, hört die Kassierin nur „Hochdeutsch“ und „Befehl“ - das genügt. Es muss wohl am Ton der Stimme und der besonderen Lautgestalt des deutsch geworteten Satzes liegen, dass ein höflicher Wunsch als arroganter Marschbefehl auf das Schweizer Ohr trifft. Statt den angeschlagenen bzw. vorgeschlagenen höflichen Ton zu übernehmen, rufen solche Wahrnehmungen nicht selten sogar rüpelhafte Reaktionen hervor.

Es fällt uns Schweizern wohl schwer, auf sprachlicher Ebene mit den Deutschen mitzuhalten und uns um eine präzise, nuancenreiche Ausdrucksweise zu bemühen. Viel lieber fühlen wir schweizerisch und wählen die uns scheinbar angeborene, etwas bäurische Ausdrucksweise. Damit drücken wir unsere Gefühle aus, und um die geht es im Zwischenmenschlichen fast immer. So weit so gut, so weit so akzeptabel. Was uns von solchen Begegnungen bleibt, ist die Bestätigung unseres Vorurteils gegenüber „den Deutschen“ und dass wir uns gegen ihre Arroganz gewehrt haben. Nur: wenn wir genau hingehört hätten, hätten wir nicht so sehr zu fühlen gebraucht. Schlechte Gefühle sollten wir für wirklich arrogante Menschen reservieren, und die gibt es meines Wissens hüben wie drüben.

Ich will auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass ich die Deutschen generell für die höflicheren Menschen halte, nur weil sie sich gewählter ausdrücken. Das Beispiel der Verkäuferin in einer Bäckerei auf dem ehemals ostdeutschen Lande - das ich selbst erlebt habe, kann dies belegen. Als ich in einer Reihe von vier Kunden an ihrem Tresen stand und einer nach dem anderen drankam, tönte das so: „UND?!“ (was wohl heissen sollte, „Wer ist an der Reihe?“). „Ein Vollkornbrötchen, bitte.“ sagte ich. Sie: „NOCH?!“ „Und ein Croissant.“ „NOCH?!“ - so ging das munter weiter, bis ich meine Bestellungen beendet hatte. „ACHTEUROFÜNFZIG!“ besiegelte dann den Dialog.

Der Fairness halber muss nun gesagt werden, dass ich solches in der Schweiz noch nie erlebt habe und es mir auch nicht vorstellen kann. Da hat es die gute Frau auf die Spitze getrieben und sollte sich eigentlich wundern, dass überhaupt noch jemand in ihren Laden kommt. Und zugegeben, solche Arroganz ist mit den Mitteln der „Standardsprache“ leichter auszudrücken.
Trotzdem zeigt dieses Beispiel, dass es kaum nur an der deutschen Seele oder der Sprache liegt, wenn Arroganz aufscheint. Hier geht es vielmehr um eine Haltung, die von mangelnder Bildung oder Ausbildung zeugt. Es liessen sich weitere selbst erlebte Beispiele aus den neuen Bundesländern anführen.

Das Gegenbeispiel: Kürzlich in Berlin - wo ich mich auf eine gewisse Schnoddrigkeit und Ungeduld mit meiner schweizerischen Langsamkeit gefasst machte, weil ich den Berliner Dialekt im Ohr hatte - widerfuhr mir genau das Gegenteil. In allen Läden, im Hotel und auch im Kontakt mit Berlinern auf der Strasse wurde ich mit ausgesuchter Höflichkeit, mit echter Freundlichkeit behandelt. Wo ich reine Sachlichkeit erwartete, ergab sich jeweils ein kurzes Gespräch, das keineswegs nur leerer Smalltalk war, sondern nette Zuwendung verriet. Sogar die (megafeine!) Currywurst wurde nicht nur hingeknallt, sondern mit ein paar freundlichen Worten serviert. Sie reden halt gern, die Deutschen, dachte ich mir. Und wünschte mir etwas mehr davon in der Schweiz. Aber da ist einer, der mal einen Satz mehr sagt als nötig, gleich „en Schnörri“.

Kurz: nehmen wir uns Zeit, zu differenzieren. Zügeln wir unsere emotionale Reaktion für eine Sekunde, führen wir uns vor Augen, was genau gesagt wurde und urteilen wir dann über den Sprecher oder die Sprecherin. Das erspart uns unangenehme Gefühle und schärft unseren Sinn für Sprache. Das kann nicht ganz falsch sein, wenn es um die Kommunikation zwischen Menschen geht, die verschiedene Sprachen sprechen - oder zumindest Varianten der gleichen Sprache.
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Soweit die Schweizer Sicht. Abschliessend noch eine dringende Bitte an alle Deutschen in der Schweiz. Sollten Sie zu der Gruppe von Menschen gehören, die solch fürchterliche Dinge sagen wie "Ich krieg 'ne Cola", dann nehmen Sie sich bitte für 2010 vor, stattdessen ab sofort zu sagen: "Könnte ich bitte noch eine Cola bekommen?"
Daneben sollte es selbstverständlich sein, dass man Schweizerdeutsch versteht und sich die Gepflogenheiten im Umgang aneignet, z.B. Schweizer Grussformeln zu benutzen und weniger direkt zu formulieren.

Und ganz zuletzt noch eine Bitte an alle Schweizerinnen und Schweizer im Umgang mit Deutschen: Anders zu sein, bedeutet nicht, schlechter zu sein. Konzentrieren Sie sich beim Zuhören auf die Sachbotschaft statt auf den Tonfall und die Körpersprache. Dann hören Sie auch nicht ständig vermeintliche Angriffe auf dem Beziehungsohr. Bleiben Sie locker und nehmen Sie nicht alles persönlich. Die Deutschen sind nicht böse, sie wollen nur spielen ... Natürlich, wenn Sie "die Deutschen" unbedingt als arrogant wahrnehmen wollen, dann werden Sie immer Beweise dafür finden, zumal es 80 Millionen davon gibt. Damit ist die statistische Wahrscheinlichkeit, einen arroganten Deutschen zu treffen, schon mal wesentlich höher als die, einen arroganten Schweizer zu treffen, denn davon gibt es nur 7 Millionen.

Die arroganten Deutschen fallen leider tatsächlich mehr auf als die nicht arroganten, weil sie lauter sind. Aber warum nicht die Aufmerksamkeit auf die vielen "leisen" Deutschen lenken? Schliesslich gibt es auch in der Schweiz ein paar laute Polterer, die ständig mit dem Finger auf die bösen anderen zeigen. Und diese Minderheit fällt auch mehr auf als die grosse Mehrheit der höflichen und offenen Schweizer/innen. Möchten Sie mit diesen Polterern in einen Topf geworfen werden?

Fazit: Die Polterer fallen mehr auf, hüben wie drüben, und sind deshalb auch für die Medien viel interessanter. Genauso wird besonders von den Medien das Bild vom angeblichen Problem mit den Deutschen weiter verbreitet und damit zementiert.

Dabei sind sich Deutsche und Schweizer doch eigentlich gar nicht so unähnlich. Wie heisst es doch so treffend? "Bescheidenheit ist die höchste Form der Arroganz."

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein souveränes und glückliches Jahr 2010!

Ihre
Gunhild Hinkelmann Ehrhard



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